Gedanken zu dem Anschlag in Hanau

Wie uns die AfD die Tat verkaufen will und warum selbst diese Version gefährlich ist

Ein offensichtlich psychisch kranker Täter hat in Hanau zehn Menschen sechs verschiedener Nationalitäten ermordet. Eines der Opfer war schwanger. Die Tatorte: zwei Shisha-Bars, die hauptsächlich von einem jungen Publikum frequentiert wird, gerade von Menschen, die nicht dem deutschen Biedermeier-Ideal eines Urdeutschen entsprechen. Diese Ziele hat sich der Täter ausgesucht. Das sind die harten und traurigen Fakten, mit denen wir uns als Gesellschaft auseinandersetzen müssen.

Unser Gedenken gilt den Opfern und unsere Gefühle sind bei den Verletzten und den Hinterbliebenen. Es ist unvorstellbar, was passiert ist. 

Sehen wir diese Tat nun vielleicht nur für einen einzigen Moment so, wie die AfD sie uns mit Leidenschaft verkaufen möchte: als die Tat eines psychisch kranken Einzeltäters, der aufgrund wahnwitziger Verschwörungstheorien wahllos Menschen getötet hat, ohne jeden politischen Hintergrund. Damit blenden wir bewusst die Teile der AfD und ihrer Facebook-Gefolgschaft aus, die direkt nach der Tat entweder feierten, dass es jetzt „10 weniger wären“ oder sich über einen erneuten Fall von „islamistischem Terror“ oder „Bandenkriminalität“ so sehr freuten, dass ihnen sprichwörtlich der Geifer aus dem Mund tropfte (Quelle: https://www.volksverpetzer.de/kommentar/hanau-afd/). Was wäre dann die Lehre aus dieser Tat?

Ob diese Tatorte vielleicht, ganz vielleicht, reine Zufälle waren, ist für die Konsequenz, die wir aus dieser Tat und vielen anderen ähnlichen Vorfällen ziehen müssen, unerheblich. Ob der Täter sich aus vielen Versatzstücken, die er im Internet gefunden hat, seine eigene wirre Ideologie zusammengebaut hat, die vielleicht, ganz vielleicht, nur zufällig rassistische Bestandteile enthielt, ist unerheblich für die Herausforderung, vor der die demokratische Mehrheit in Deutschland gerade steht. Ob der Mörder von zehn Menschen, darunter vermutlich seine eigene Mutter, psychisch krank war, ist unerheblich für das Leid der Ermordeten und Verletzten, der Hinterbliebenen. Es ist auch unwichtig für die Angst derer, die jetzt schon seit Jahren, Jahrzehnten oder ihr ganzes Leben in Deutschland leben, irrelevant für diejenigen, die vielleicht gerade nur ein Auslandssemester in Deutschland planen und Angst haben müssen, bei einem Besuch in einem Café, auf dem Weg zur Uni oder beim Zusammensitzen mit Freund*innen in einem Park angegriffen zu werden und vielleicht ihr Leben zu verlieren. Es ist nicht in Ordnung, dass es im heutigen Deutschland Menschen gibt, die mittlerweile nicht nur Angst vor alltäglichem Rassismus haben müssen, sondern auch, dass deutsche Polizist*innen oder Feuerwehrmänner/-frauen nicht mehr Freund und Helfer sind, sondern von denen manche a priori klare Grenzen ziehen, wer schutzbedürftig ist und wer nicht.

Auch wenn wir annehmen, dass es die Tat eines psychisch Kranken war: die Verschwörungstheorien, auf denen die Tat in Hanau aufbaute, hat unmissverständlich Folgen für diejenigen, die zentraler Gegenstand vieler Verschwörungsfantasien sind: Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten und solche Menschen, die von ihren Mörder*innen dazu erklärt werden. Natürlich: Auch politische und kulturelle Eliten, Politiker*innen, Geheimdienste und Sicherheitsbehörden, Aliens, Illuminat*innen und Freimaurer*innen sind zentraler Bezugspunkt von Verschwörungsfanatiker*innen und sie waren es auch beim Attentäter in Hanau. Aufgrund ihrer gehobenen Stellung, weil sie abstrakte Institutionen sind oder einfach nicht existieren, laufen sie jedoch meist nicht Gefahr, körperlich angegriffen oder getötet zu werden. Es bleiben als Ziel diejenigen, die schutzlos sind, die sich abends in Bars treffen ohne Bodyguards oder auch nur einen Gedanken daran, dass ein psychisch Kranker in wenigen Minuten ihr Leben auslöschen wird. Ob der Täter ein eindeutig gefestigtes, rassistisches Weltbild hatte oder die Tat aus einer Psychose heraus begangen hat, ist unerheblich für diejenigen, die Angst haben müssen, als (wahrgenommene) Mitglieder bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, Opfer eines solchen Täters zu werden. Die Gesellschaft muss deswegen zusammenstehen und die Menschen schützen, die Angst haben, nicht mehr dazuzugehören und um ihre körperliche Unversehrtheit bangen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass sie sich sicher fühlen und dass sie fester Teil unserer Gemeinschaften sind. Das ist die Perspektive der Opfer und derjenigen, die Angst haben, zu solchen zu werden.

Ein weiterer Punkt ist aber vielleicht noch deutlich wichtiger in Bezug auf die politischen Konsequenzen. Die Tat von Hanau, egal welchen spezifischen Hintergrund sie hat, ist ein Puzzlestein in einer gesellschaftlichen Entwicklung, die hoffentlich niemals in Geschichtsbüchern so beschrieben werden wird:

„Der Machtergreifung durch die faschistischen Kräfte in Deutschland im Jahr 2023 gingen zahlreiche terroristische Bestrebungen und Angriffe durch Rechtsextreme voraus, die 2021 zum Bürgerkrieg führten.  Der Bürgerkrieg destabilisierte die Regierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz soweit, dass er 2022 auf Stimmen der AfD angewiesen war, um weiter an der Macht zu bleiben. Es folgte die Beschneidung der Pressefreiheit und die Massendeportation von Flüchtlingen auf Geheiß von Vizekanzler Björn Höcke […].“ (aus dem Buch „Deutschlands Weg zum faschistischen Staat – Teil 2“, das hoffentlich niemals geschrieben werden wird)

Wie lange werden wir brauchen, um zu realisieren, dass die Taten des NSU, die Ermordung von Walter Lübke, der Anschlag auf die Synagoge und die Morde in Halle, der politische Tabubruch bei der Wahl des Ministerpräsidenten von Thüringen, das ständige rechte Geschwurbel der AfD, die Planung von rechtsextremen Anschlägen auf muslimische Einrichtungen und letztendlich der Angriff auf die zwei Shisha-Bars in Hanau zwar vermutlich keine zentral koordinierten Bestrebungen zur Destabilisierung der deutschen Demokratie waren, aber Teil einer politischen Entwicklung, welche die Selbstverständlichkeit der Parole „Nie wieder Faschismus!“ immer mehr in Frage stellt?

Teil dieser Entwicklung ist die Verrohung von Sprache, sei es im Bundestag oder in den sozialen Medien. Daran hat die AfD unbestritten einen Anteil. Rassisten im Internet, auf der Straße und in den Parlamenten schaffen den Boden, der wichtig dafür ist, dass sich solche Täter legitimiert fühlen, dass sie wissen, dass jemand die Livestreams ihrer Morde schaut und sie hinterher als Märtyrer feiert. Sehr gut fasste die Seite „Volksverpetzer“ in diesem Zusammenhang die Idee des Begriff des „stochastischen Terrorismus“ zusammen, der exakt auf den Punkt bringt, wie die Erschaffung einer gesellschaftlichen Grundstimmung durch offen oder verdeckt extremistische Kräfte zu terroristischen Angriffen führen kann (Quelle: https://www.volksverpetzer.de/analyse/hetze-fuehrt-zu-hanau/): Eine bestimmte gesellschaftliche Grundstimmung wird zunächst normalisiert. Wo Alice Weidel von „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtsen“ spricht (Quelle: https://www.welt.de/politik/deutschland/article176402564/Kopftuchmaedchen-Weidel-will-sich-gegen-Schaeubles-Tadel-wehren.html), da werden Muslime und Flüchtlinge rassistisch gebrandmarkt. Sicherlich ein Tabubruch, der danach scharf kritisiert wurde, aber einer, der dann weiteren Äußerungen Raum gibt, die sich immer weiter radikalisieren und Dehumanisierung als normal erscheinen lassen. Dazu gehören genauso „politische Inkorrektheit“, latent rassistische Memes und rassistische Kommentare in Online-Foren, die zwar an der Grenze zur Strafbarkeit stehen, aber immer noch durch die Meinungsfreiheit geschützt sind. Für politische Terrorist*innen ist dies der Boden, auf dem sie sich radikalisieren. Der nächste Schritt folgt dann für Einzelne unvermeidlich. Sie radikalisieren sich weiter, verlassen den Boden der Legitimität und auch Parolen und politische Forderungen von sehr weit rechtsstehenden Politiker*innen scheinen nicht mehr radikal genug (Quelle: https://journals.uic.edu/ojs/index.php/fm/article/view/10108/7920).  Filterblasen in den sozialen Medien tragen dabei nur noch mehr zum zunehmenden Realitätsverlust bei. Wenn die gedankliche Dehumanisierung erst einmal erfolgt ist, dann gibt niemand einen Befehl oder koordiniert terroristische Anschläge. Stochastisch  (also auf Basis von Wahrscheinlichkeiten) gesehen muss man nur warten, bis irgendjemand von diesen Menschen durchdreht. Ob diese Täter*innen psychisch krank sind, ist dabei unerheblich und sogar sehr hilfreich. Phrasen wie „Das konnte niemand voraussehen.“ und „Eigentlich war das ein ganz normaler, unauffälliger Mensch.“ helfen danach den geistigen Brandstifter*innen sich moralisch und rechtlich zu entlasten. Den Samen haben sie zwar unter dem Schutz der Meinungsfreiheit gepflanzt und eifrig gegossen, die Ernte haben dann andere für sie eingefahren. Auch WENN es ein psychisch kranker Einzeltäter war, so haben AfD und andere faschistische Kräfte den Boden dafür bereitet, was jetzt passiert und uns unweigerlich immer normaler erscheinen wird, wenn wir uns nicht dagegen wehren, wenn jetzt die Rede von „Burkamädchen“ und „alimentierten Messermännern“ ist.

Um noch einmal auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen: Können wir tatsächlich annehmen, dass die relativierende AfD-Version eines psychisch kranken Einzeltäters stimmt, wie wir es zuvor getan haben? Vermutlich nicht und das macht die Besorgnis über die Tat in Hanau noch viel größer. Ein Kampf gegen faschistische und rassistische Bestrebungen wird damit also nur umso wichtiger und erfordert den Einsatz von uns allen.

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